Kurt Walter Zeidler
 

Richard Hönigswald - Ein Unbekannter
 

Richard Hönigswald gilt als schwieriger Autor. Das ist zum einen eine Empfehlung, die zu tieferer Auseinandersetzung mit seinem Werk einlädt, zum anderen steht dieser Auseinandersetzung aber der Umstand im Wege, daß heute weitgehend das Wissen um die 1933 zerrissenen Diskussionszusammenhänge fehlt, das vonnöten wäre, um die Position von Richard Hönigswald angemessen zu würdigen. So versuchten z.B. in wohlmeinender Absicht die ersten Interpreten, Richard Hönigswald im Lichte der 50er und frühen 60er Jahre zu ‚aktualisieren‘, indem sie ihn als Denker der „konkreten Subjektivität“ in eine Linie mit Nicolai Hartmann und Martin Heidegger stellten.1  Diese ontologische Hönigswald-Interpretation Manfred Brelages und Gerd Wolandts orientierte sich an der (seit etwa 1930) „vollausgebildeten Gestalt der Hönigswaldschen Systematik“, wenngleich sie auch angesichts dieser ausgebildeten Systematik bedauernd feststellen muß, daß „Hönigswalds [...] Ablehnung des Gleichzeitigen [...] offensichtlich stärker [ist] als die Abgrenzung gegenüber dem Vergangenen“ und er deshalb „ungescheut [!] die Verbundenheit seines Denkens mit der kantianischen Tradition [bekennt]“ (G. Wolandt [1964], S. 23). Die neuere Forschung muß darum konstatieren, daß die Bemühungen, „eine Distanz zwischen Hönigswald und dem Kritizismus der Neukantianer und auch Kants herauszustellen, ... böse, die Hönigswald-Auslegung auf schiefe Bahnen lenkende Folgen“ hatte2 und sieht sich daher zu einer, von (seinerzeit) modischen Anti-Kritizismen freien Analyse der historischen Voraussetzungen der Philosophie Hönigswalds gedrängt.
Forscht man nach den Quellen der Hönigswaldschen Systematik, dann muß man sich zuvörderst von dem vertrauten Bild eines durch die Marburger und die Südwestdeutsche Schule repräsentierten Neukantianismus lösen. Reserviert man den Oberbegriff ‚Neukantianismus‘ für den wissenschaftslogischen Idealismus der Marburger und den Wertkritizismus der Südwestdeutschen Schule, dann erscheint die Denkpsychologie Hönigswalds nicht so sehr als Fortführung und Weiterentwicklung neukantianischer Ansätze, sondern als Abkehr vom Neukantianismus, wenn nicht gar als dessen Überwindung. Die beiden genannten Schulen sind sich nämlich in einem strikten Anti-Psychologismus einig, den sie an Hand der Unterscheidungen von objektiver und subjektiver Begründung der Erkenntnis oder von kritischer und genetischer Methode3  gegenüber dem Motiv- und Problemreichtum der kantischen und nachkantischen Philosophie zu bewähren suchen. Ihre Kritik am sogenannten ‚Psychologismus‘ wendet sich darum auch gegen Kant, insbesondere gegen die Kantische Verschränkung von Bewußtseins- und Gegenstandstheorie, die Hönigswald in seiner entwickelten Systematik als „Korrelation“ und als „Einheit von Ich-Bestimmtheit und Ist-Bestimmtheit“ thematisieren wird.4 Diese Verschränkung (und mit ihr die ganze Kantische Systematik) wird im Neukantianismus aufgebrochen, genauer: das im Begriff des ‚transzendentalen Subjekts’ angesprochene Problem der Verschränkung von Bewußtseins- und Gegenstandstheorie (das Problem der Transzendentalen Deduktion) wird unter Berufung auf ein Normalbewußtsein oder Kulturbewußtsein unterlaufen und durch eine geltungstheoretische Analyse der in den einzelnen Wissenschaften und in den jeweiligen Sphären der Gesamtkultur vorliegenden Objektivationen des Normal- oder Kulturbewußtseins ersetzt. Dieser neukantianische Geltungsobjektivismus, demzufolge die Aufgabe der Philosophie in der Analyse der Geltungsbedingungen der verschiedenen Wissenschaften und Kulturgebiete besteht, wird zwar von Hönigswald durchaus geteilt; nicht geteilt aber wird von ihm die mit diesem Geltungsobjektivismus einhergehende Ersetzung des transzendentalen Subjekts durch ein Normal- oder Kulturbewußtsein. Damit bezieht Hönigswald nicht nur eine eindeutige Position außerhalb der Marburger und der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, sondern er übernimmt damit auch die klar definierte Aufgabe, den Zusammenhang von Bewußtseins- und Gegenstandstheorie im Horizont des neukantianischen Geltungsobjektivismus neu zu bestimmen.
Mit der in systematischer Hinsicht somit höchst folgenreichen Kritik an einem als Normalbewußtsein oder Kulturbewußtsein kostümierten ‚Bewußtsein überhaupt‘, steht Hönigswald freilich nicht allein. Er folgt damit seinem Lehrer Alois Riehl, der ausdrücklich die ‚idealistische‘ Erdichtung eines „menschliche[n] Gattungsbewußtsein[s], das noch außer und über dem Bewußtsein der einzelnen Menschen bestehen soll“ kritisiert.5 Der von Riehl und Hönigswald vertretene realistische Kritizismus, zu dem auch Otto Liebmann und Bruno Bauch zu zählen sind, unterscheidet sich nicht nur in diesem Punkt von den beiden bekannteren ‚idealistischen‘ Schulen des Neukantianismus. Der realistische Kritizismus ist um das sogenannte Affinitätsproblem zentriert, das - als Problemzusammenhang - in Kantischer Terminologie am ehesten durch die Schlüsselbegriffe Affektion, Affinität und Naturzweck charakterisiert werden kann. In diesen Begriffen kommen die realistischen Momente der theoretischen Philosophie Kants und damit auch die ganze Spannbreite der Probleme zum Ausdruck, die es im Hinblick auf die tranzendentalphilosophische Verschränkung von Bewußtseins- und Gegenstandstheorie für eine realistische Kantinterpretation und Kantnachfolge zu bewältigen gilt.
Aufgrund seines Ausgangs von den Repräsentanten der neukantischen Bewegung, die das realistische Moment des Kritizismus betonen, bewegt sich das Denken Richard Hönigswalds somit von vornherein in einer eigentümlichen Problemkonstellation, die den Horizont dessen, was man gemeinhin als ‚Neukantianismus’ zu bezeichnen gewohnt ist, gleichermaßen voraussetzt und sprengt. Diese eigentümliche Problemkonstellation eröffnet sich für Hönigswald - noch unabhängig von allen tiefergehenden systematischen Überlegungen - allein schon dadurch, daß er von der Medizin aus den Zugang zur kritischen Philosophie findet. Wie Hönigswalds erste Publikation Zum Begriff der ‚exacten Naturwissenschaft‘, Eine kritische Studie von Richard Hönigswald (Zweite, revidierte Ausgabe, Leipzig 1900) zeigt, erfolgt dieser Zugang über die Frage nach einer allgemeinen - Natur- und Geisteswissenschaften umspannenden - Methodenlehre, insofern diese beiden „Methoden menschlichen Erkennens [...] einer philosophischen Betrachtungsweise doch nur als verschiedene, keineswegs aber von einander unabhängige, Wege zur Erreichung eines und desselben Zieles erscheinen können“ (S. 4). Hat Hönigswald in dieser ersten Publikation, vor dem Hintergrunde des psychophysischen Problems und der erkenntnistheoretischen Frage nach dem Rechtsgrund des Zusammenstimmens von Mathematik und Natur, das Problem einer Allgemeinen Methodenlehre aufgeworfen und damit vorweg den Rahmen seiner künftigen Untersuchungen abgesteckt, so wendet er sich in seinen nächsten zwei Veröffentlichungen gegen die beiden Häupter und Hauptrichtungen des zeitgenössischen Naturalismus und Szientismus: gegen Ernst Haeckel und gegen Ernst Mach. Die Studie Ernst Haeckel der monistische Philosoph, Eine kritische Antwort auf seine ‚Welträthsel‘ (Leipzig 1900) stützt sich vorallem auf Otto Liebmann. In der Streitschrift Zur Kritik der Machschen Philosophie, Eine erkenntnistheoretische Studie von Dr. Richard Hönigswald (Berlin 1903) weicht jedoch das begeisternd anziehende Pathos Liebmanns der strengeren Sachlichkeit Alois Riehls. Inhaltlich erfährt dabei vor allem das „Ding an sich“ eine neue Wertung, das nun nicht mehr im Sinne Liebmanns als Ausdruck für Kantens Perhorreszierung der „sinnlose[n] Frage nach dem ‚Woher’ dieser empirischen Welt“, sondern im Sinne der realistischen Kantdeutung Riehls als der „Begriff eines das Erfahrungsobjekt material bestimmenden Grundes der Erscheinungen“ (S. 35) gedeutet wird. Die Besinnung auf „diese materiale Voraussetzung der Erkenntnis von Dingen“ bezeichnet Hönigswald im Anhang zu seiner Hallenser Dissertation Über die Lehre Hume’s von der Realität der Außendinge, Berlin 1904 als „kritische Metaphysik“. Sie fragt nach den „metaphysischen“ Voraussetzungen, welche „neben den diese ‚Möglichkeit’ der Erfahrung begründenden logischen Voraussetzungen stehen“ und deren „Wirklichkeit zugrunde“ liegen (S. 65). Denn zwar richtet sich der „Kritizismus [...] gegen die Behauptung einer Erkenntnis metaphysischer Faktoren, aber er fordert geradezu die Annahme metaphysischer Voraussetzungen des Gegenstandes der Erkenntnis“,6 wäre doch die „Leugnung metaphysischer Voraussetzungen unserer Erfahrungsobjekte überhaupt [...] gleichbedeutend mit der Leugnung des ‚gegebenen‘, d. h. aus den Formen der Erkenntnis nicht ableitbaren Inhaltes der Erfahrung.“ (S. 68).
Die im Anschluß an die realistische Kantinterpretation Alois Riehls und im Ausblick auf eine kritische Metaphysik vorgenommene Unterscheidung von Form und Inhalt der Erkenntnis, bestimmt auch die systematischen Überlegungen, die Hönigswald in seiner Breslauer Habilitationsschrift Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre (Leipzig 1906) anstellt. In den ‚Beiträgen‘ versucht Hönigswald „einerseits die nahen Beziehungen des philosophischen Kriticismus, insbesondere in der Gestalt, wie er sie den klassischen Forschungen A. Riehls verdankt, zur positiven Wissenschaft in klarstes Licht zu setzen, andererseits den Begriff der Methodenlehre in engem Anschluss an die Grundlagen des philosophischen Kriticismus zu erweitern“, wobei das erstere angestrebt werde „durch eine Analyse des Galileischen Grundsatzes der Naturgesetzlichkeit, das letztere durch eine von methodologischen Gesichtspunkten aus unternommene Scheidung zwischen Urteilsform und Urteilsmaterie.“ In diesem Programm beziehen sich die Wendungen „methodologische Gesichtspunkte“ und „Begriff der Methodenlehre“ nicht so sehr auf die wissenschaftstheoretischen Intentionen Riehls, sondern auf den Versuch des Tübinger Philosophen Christoph Sigwart, „die Logik unter dem Gesichtspunkte der Methodenlehre zu gestalten, und sie dadurch in lebendige Beziehung zu den wissenschaftlichen Aufgaben der Gegenwart zu setzen“.7 Hönigswald verfolgt damit in seiner Habilitationsschrift zwei für einen Riehl-Schüler gleichermaßen naheliegende Zielsetzungen: er ist bestrebt, die Galileiforschungen seines Lehrers in Auseinandersetzung mit den mittlerweile zu diesem wissenschaftstheoretischen Thema erschienenen Arbeiten von Ernst Mach und Ernst Cassirer fortzuführen8 und sucht zugleich einen systematischen Brückenschlag zwischen dem philosophischen Kriticismus Alois Riehls und der durch Christoph Sigwart und Heinrich Maier vertretenen Methodenlehre herzustellen.
Im Zuge seiner systematischen Überlegungen zur Urteilslehre verknüpft darum Hönigswald die massiven Psychologismen der Logik Sigwarts und Maiers9 mit der realistischen Auffassung Riehls vom Ding-an-sich und der darin begründeten metaphysischen Interpretation der Unterscheidung von Urteilsform und Urteilsmaterie, so daß es letztlich den Anschein hat, als bestimmten die „Dinge an sich [...] als der Grund unserer Wahrnehmungen“ (S. 85, Anm.) über die „Urteilsmaterie“ das „Wahrheitsbewußtsein“ dahingehend, in den „besonderen Urteilsformen (Das kategorische, das hypothetische Urteil u.s.w.)“ aufzutreten (S. 42f.). Das transzendental-logische Problem einer Differenzierung der „erkenntnistheoretischen Funktion des Urteils [...] Vorstellungen überhaupt in allgemeingültiger Weise zu verknüpfen“ (ibid.; vgl. S. 35) - die zentrale Aufgabe also einer systematischen Entfaltung der Kategorien und ‚Urteilsformen’ im Sinne der „metaphysischen Deduktion“ Kantens - wird solcherart von Hönigswald in das asylum ignorantiae des Dings-an-sich abgeschoben und in ein Argument zugunsten einer „realen Existenz von Dingen“ verkehrt, welche den Gegenstand und das „Problem einer metaphysischen, niemals aber das einer erkenntnistheoretischen Untersuchung“ bilden sollen. Wenn jedoch die „erkenntnistheoretische Funktion der allgemeingültigen Verknüpfung von Vorstellungen im Urteil [...] sich nur betätigen [kann], wenn die materialen Bedingungen hierfür in dem sinnlichen Inhalt der Erfahrung gegeben sind“, und Hönigswald gerade deshalb „auf das entschiedenste die reale Existenz der Dinge“ glaubt behaupten zu müssen (S. 84), erweist sich ungewollterweise entweder diese „metaphysische Untersuchung [der] allen kritischen Untersuchungen als der Grund unserer Wahrnehmungen vorausgesetzt[en] ... ‚Dinge an sich‘“ als das - nunmehr grundlegende - Problem jeglicher erkenntnistheoretischen Untersuchung, oder aber es erweist sich die spezielle Wendung, die Hönigswald dem Problem gibt als metaphysische Verkehrung des transzendentalphilosophischen Ansatzes.
Im Grunde scheint freilich bereits Hönigswald selbst diese Verkehrung zu bemerken, denn letztlich „müssen auch Dinge an sich schon, sofern sie uns nur Erscheinungen liefern, an der Einheitsform des Bewusstseins orientiert sein“ (S. 119f.), bzw. müssen sie, um „überhaupt Gegenstände der Erfahrung werden [zu] können, [...] von vornherein den obersten formalen Bedingungen der Erfahrung gemäss beschaffen sein“ (S. 116). Ernst Cassirer, der den ‚Beiträgen‘ eine umfangreiche Rezension in den Kant-Studien (Bd. XIV/1909, S. 91-98) widmete, in welcher er zwar den „allgemeinen Voraussetzungen für Hönigswalds erkenntnistheoretische Analyse des Gegenstandsbegriffes [...] in allen Punkten“ zustimmt, dafür jedoch „um so entschiedener“ darauf hinweist, daß „der Begriff des ‚Dinges an sich’ [...] in dem Sinne, in dem Hönigswald ihn nimmt, innerhalb seiner Untersuchung als ein fremder und unorganischer Bestandteil [wirkt]“,10 griff diese Wendungen gerne auf um Hönigswald gewissermaßen nachträglich auf die Marburger Interpretation des ‚Dinges an sich‘ festzulegen: „So muss denn auch Hönigswald - so sehr er andererseits bemüht ist, die Transcendenz und Unerkennbarkeit der ‚Gründe’ der Erscheinungswelt zu wahren - auf der anderen Seite [...] das, was zuvor als ein in jedem Sinne Unbedingtes genommen wurde, nachträglich dennoch irgendwie bedingen, um es für seinen erkenntnistheoretischen Aufbau nutzen zu können. Der Gegenstand der Erfahrung vereint in der Tat die beiden begrifflichen Charaktere, die am absoluten Gegenstande einander widerstreiten würden: er ist ‚unbestimmt‘, sofern seine Erkenntnis eine Aufgabe des unendlichen Prozesses der Erfahrung selbst und somit in keinem gegebenen Einzelmoment vollendet ist, aber er ist zugleich ‚bestimmt‘, sofern die Richtung, in welcher diese Erkenntnis gesucht wird, und die allgemeinen Methoden, die zu ihr hinführen, feststehen.“11
In etwas überspitzter Formulierung kann gesagt werden, daß Hönigswalds Philosophieren von nun ab dem Ziele dient, einen Begriff vom ‚Ding an sich‘ zu entwickeln, der Cassirers Kritik standhält und dennoch mehr beinhaltet als eine bloße richtungs- und methodenbestimmte „Aufgabe“.12 Nicht viel anders scheint jedenfalls Hönigswald selbst seine Stellung innerhalb der „erkenntnistheoretische[n] Richtung, die man mit dem Schlagwort ‚Neokantianismus‘ zu bezeichnen pflegt“, gesehen zu haben, wenn er in seiner Geschichte der Erkenntnistheorie darauf hinweist, daß „die ‚Marburger‘ Kritik nicht allen Tiefen der Frage gerecht [werde], die sich in der Formulierung des Problems [sc. des Dings an sich] durch Riehl, möglicherweise von ihm selbst noch unerkannt, erschließen“. Insofern das ‚Ding an sich‘ in der Fassung Riehls „diejenige Funktion der Gegebenheit [umschreibe], vermöge deren Gegebenes ‚da ist‘“, schließe nämlich dessen Formulierung „das Problem der Psychologie in sich“, so daß es letztlich Riehls Verdienst sei, „trotz aller unleugbaren Anklänge an einen ‚naiven’ Realismus, der Marburger Kritik gegenüber [...] den Zugang zu einer erschöpfenden Bestimmung des Begriffs einer ‚gegebenen‘ Mannigfaltigkeit offengehalten zu haben“13
Bevor Hönigswald seinen eigenständigen Ansatz gewinnt, bevor er im Sinne seines „denkpsychologischen“ Ansatzes den „Zugang zu einer erschöpfenden Bestimmung des Begriffs einer ‚gegebenen‘ Mannigfaltigkeit“ mit dem „Problem der Psychologie“ verknüpfen kann, hat er allerdings erst den Anti-Psychologismus zu überwinden, der die gemeinsame Grundvoraussetzung aller im engeren Sinne ‚neukantianischen‘ Philosopheme bildet. Zur Lösung dieser Aufgabe greift Hönigswald in der Folge auf die einzelwissenschaftlichen und philosophischen Theoriebildungen zurück, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kampf gegen den assoziationspsychologischen ‚Atomismus‘ der überkommenen empiristischen Psychologie formieren. Zu den für Hönigswald in diesem Zusammenhang relevanten Theoriebildungen zählen die denk- und gestaltpsychologischen Forschungen der ‚Würzburger Schule‘ um Oswald Külpe (K. Marbe, N. Ach, A. Messer, K. Bühler, O. Selz), Hans Drieschs neo-vitalistische Philosophie organischer Ganzheiten und die ‚deskriptive Psychologie‘ bzw. Phänomenologie Edmund Husserls. Wie Hönigswald diese verschiedenen Ansätze im Horizont seiner Fragestellungen aufgreift und sie für seine eigene transzendentalphilosophische Systematik verwertet, kann hier nicht mehr näher thematisiert werden. Die vorliegenden Ausführungen sollen bloß verdeutlichen, daß diese Systematik nicht so sehr als Abkehr vom Neukantianismus, sondern vielmehr als Weiterführung und Vertiefung des realistischen Kritizismus zu verstehen ist und die für Hönigswalds entwickelte Systematik kennzeichnenden Programmtitel ‚Denkpsychologie‘ und ‚Monadologie‘ keine Abkehr vom Kritizismus bedeuten, sondern  für die kritisch-realistische Dimension des Zusammenhangs von Bewußtseins- und Gegenstandsproblematik stehen, der die vermögenspsychologische Exposition der Vernunftkritik genauso beherrscht, wie die in der Kritik der teleologischen Urteilskraft im Begriff des Naturzwecks gestellte Frage nach einem „Gegebenen“, das - nicht als ein „bloß Mannigfaltiges in der Anschauung“, sondern - bereits als Ganzheit, als organisiertes Wesen und Individuum gegeben ist. Um zu ermessen, daß und inwiefern in den genannten Problemen Grund- und Schicksalsfragen des Kritizismus beschlossen sind, genügt es zu bedenken, daß die Transzendentalphilosophie in ihrem beständigen Kampf gegen den ‚Psychologismus‘ und den ‚naiven Realismus‘ die ebenso beständige Gefahr einer ‚unkritischen‘ Trennung und dogmatischen Verfestigung ihrer bewußtseins- und gegenstandstheoretischen Dimensionen bekämpft. Damit ist aber auch schon der systematische Zusammenhang zwischen den Positionen Riehls und Hönigswalds in dem Maße klargestellt, in dem letzterer den philosophischen Kritizismus seines Lehrers eben dieser Gefahr ausgesetzt sieht. Wenn daher Hönigswald in seinem Nachruf auf Alois Riehl schreibt, daß „die Position Riehls von schweren Gefahren bedroht [...] erschien“, insofern „weder der Begriff des ‚Dinges an sich‘, noch der Anteil des ‚Subjekts‘ an der Erkenntnis [...] zu Ende gedacht [...] schienen“ und somit „Psychologismus und naiver Realismus [...] nicht das den Ansätzen der Riehlschen Fragestellung entsprechende Maß der Ablehnung erfahren zu haben [...] schienen“,14 so wird man in solcher indirekten Kritik nicht bloß die Pietät des Schülers gegenüber seinem Lehrer, sondern auch die Ansatzpunkte seiner eigenen Fragestellung und Systematik erkennen müssen.
Die Grundstruktur dieser Systematik läßt sich am ehesten am Bild einer Ellipse verdeutlichen, insofern das Denken Hönigswalds gleichsam um zwei ‚Brennpunkte‘ zentriert ist: um das Problem des ‚Gegebenen‘ und um das Problem einer ‚Allgemeinen Methodenlehre‘, die letztlich auf alle Objektiviationen des Geistigen ausgreift. Diese Systematik ist also nicht etwa auf das eine „zentrale Problem“ der Einheit von empirischem und transzendentalem Subjekt fixiert,15 sondern sie erwächst aus dem Versuch einer korrelativistischen Bewältigung des Affinitätsproblems; sie erwächst aus der Korrelativsetzung zweier Grundprobleme, anhand derer sich zudem präzise Abstand und Nähe Hönigswalds zu seinem Lehrer Alois Riehl bestimmen lassen. Diese beiden Grundprobleme (das Problem des ‚Gegebenen‘ und das Problem einer ‚Allgemeinen Methodenlehre‘) erwachsen nämlich ihrerseits aus der Problematisierung der beiden Eckpfeiler (des realistischen und des wissenschaftstheoretischen) auf denen der philosophische Kritizismus Alois Riehls ruht; aus einer Problematisierung, die sich daraus ergibt, daß Hönigswald das schlichte Nebeneinander beider Ansätze in eine strenge Wechselbezüglichkeit transformiert. Indem Hönigswald das schlichte Nebeneinander von Realismus und Methodenlehre in die strenge Wechselbezüglichkeit von Faktizität und Prinzipialität umdeutet, schärft und vertieft er den realistischen Kritizismus seines Lehrers Riehl in Auseinandersetzung mit der Marburger und der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus.
 

Gefördert vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (P15315 Richard Hönigswalds Kultur- und Methodenlehre).
 
 
 

Anmerkungen
 

1)  „N. Hartmann, Hönigswald und Heidegger [...] repräsentieren charakteristische und jeweils für die Gegenwartsentwicklung tragende Möglichkeiten der Überwindung des transzendentalphilosophischen Idealismus der Jahrhundertwende.“ (M. Brelage [1965], S. 77; vgl. ibid., S. 129).
 „Die Thematik der konkreten Subjektivität rückt die Hönigswaldsche Lehre in die Nähe jener Theoreme, die das Gesicht der deutschen philosophischen Forschung im zweiten und dritten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts geformt haben, in die Nähe der Kategorialanalyse und der Geist-Philosophie Hartmanns und der Daseinsanalytik Heideggers.“ (G. Wolandt [1964], S.21).
2)  W. Flach, Richard Hönigswalds systemthoretisches Methodologiekonzept, in W. Schmied-Kowarzik (Hrsg.), Erkennen – Monas – Sprache, Würzburg 1997, S. 76.
3) Vgl. Paul Natorp, Ueber objective und subjective Begründung der  Erkenntniss, in: Philosophophische Monatshefte 27/1887, S. 257-286; Wilhelm Windelband, Kritische oder genetische Methode? (1883) In: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, 2. Bd., Tübingen 61919, S. 99-135.
4) K. W. Zeidler, Kritische Dialektik und Transzendentalontologie. Der Ausgang des Neukantianismus und die post-neukantianische Systematik, Bonn 1995, S. 108ff..
5) A. Riehl, Der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, Bd. 2, 2. Theil: Zur Wissenschaftslehre und Metaphysik, Leipzig 1887, S. 162; vgl. Der philosophische Kritizismus. Geschichte und System, 3. Bd., Zur Wissenschaftstheorie und Metaphysik, hg. von H. Heyse und E. Spranger, 2. veränd. Aufl., Leipzig 1926, S. 153.
6) Diese Ausführungen gemahnen ebenso an Otto Liebmanns „kritische Metaphysik“, wie an die einst berühmte Formulierung, mit der Alois Riehl die Neubearbeitung des ersten Bandes seines ‚Philosophischen Kritizismus’ schließt: „Wie aber für die Formen des Anschauens, so ist auch für die des Denkens in den Objekten, den Dingen selbst, ein Grund vorauszusetzen. Alles Empirische, alles im weiteren Sinn des Wortes Physische grenzt an ein Metaphysisches. Die Kritik der reinen Vernunft bejaht das Metaphysische, sie  verneint die Metaphysik.“ (Riehl, Der Philosophische Kritizismus. Geschichte und System, 1. Bd., Geschichte des philosophischen Kritizismus, 2. neu verfaßte Aufl., Leipzig 1908, S. 584.)
7) Chr. Sigwart, Logik, Bd. 1, Tübingen 21904, S. XVII.
8) Alois Riehl, Über den Begriff der Wissenschaft bei Galilei, in: Vierteljahresschr. für wiss. Philos. 1891. Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwickelung historisch-kritisch dargestellt, Leipzig 41901. Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neuerenZeit, Bd. 1, Berlin 1906.
9) Bekanntlich richtet sich die Psychologismus-Kritik Edmund Husserls im ersten Band seiner ‚Logischen Untersuchungen’ (1900) vornehmlich gegen den Psychologismus der Sigwartschen Logik.
10) E. Cassirer, R. Hönigswald, Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre, in: Kant-Studien 14/1909, S. 95.
11) Ebd., S. 98.
12) Vgl. K. W. Zeidler, Kritische Dialektik und Transzendentalontologie, Bonn 1995, S. 85, 120f..
13) R. Hönigswald, Geschichte der Erkenntnistheorie, Berlin 1933, S. 188; vgl.  Ders., Alois Riehl, in: Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus 4,1/1926, S. 44f.
14) R. Hönigswald, Alois Riehl, in: Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus 4,1/1926, S. 43.
15) Vgl. N. Meder, Prinzip und Faktum, Bonn 1975, S. 157; M. Brelage, Studien zur Transzendentalphi-losophie, Berlin 1965, S. 129, S. 156; G. Wolandt, Gegenständlichkeit und Gliederung, Köln 1964, S. 17.