Kurt Walter Zeidler
 

Zur Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger1
 

Mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der strikten Unterscheidung von Sein und Sollen zieht David Hume (Treatise III, I, 1) bekanntlich die Konsequenz aus der neuzeitlichen Depotenzierung und Funktionalisierung des Naturbegriffs, derzufolge die beobachtbaren Gesetzmäßigkeiten der Physis nicht mehr Ausdruck einer meta-physischen Vernunftordnung, sondern die Ergebnisse der beobachtenden, experimentierenden und konstruierenden Tätigkeit der Naturforscher sind. Darum ist es um so bemerkenswerter, daß Kant auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen dem was ist und dem was sein soll zu einer Metaphysik der Natur und einer Metaphysik der Sitten ausholt (KrV A 840f.) und solcherart versucht, den neuzeitlichen Skeptizismus von seinen eigenen Voraussetzungen her aus den Angeln zu heben. Die Schwierigkeiten dieses Versuches werden denn auch an allen Stationen des Kantischen Denkweges und allerorten in seiner Architektonik sichtbar. Am deutlichsten aber bündeln und offenbaren sie sich in der dritten Antinomie, zu deren Auflösung Kant die Unterscheidung zwischen transzendental-idealen Gegenständen der Erfahrung (den Erscheinungen) und transzendental-realen Dingen an sich zur Bedingung der Möglichkeit der Freiheit erklärt: „Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten. Alsdenn ist Natur die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit [...]. Wenn dagegen Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der Tat sind, nämlich nicht für Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind.“ (KrV A 536f.). Einerseits trägt der Erscheinungsbegriff der neuzeitlichen Depotenzierung und Funktionalisierung des Naturbegriffs Rechnung. Andererseits aber versucht Kant, die Metaphysik ‚in praktischer Absicht‘ zu rehabilitieren, indem er zugunsten des Freiheitsbegriffs die Möglichkeit einer „intelligibelen Ursache“ einräumt, deren Wirkung „als frei, und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur angesehen werden“ könne. Daß diese Auflösung der Freiheitsantinomie nicht nur „äußerst subtil und dunkel scheinen [!] muß“ (ibid.), sondern tatsächlich „viel Schweres in sich [hat], und [...] einer hellen Darstellung kaum empfänglich“ ist (KpV A 184), hat Kant selbst eingestanden. Es ist darum nicht verwunderlich, daß die weiteren Entwicklungen der kantischen und der nach-kantischen Philosophie maßgeblich den Versuchen einer Aufklärung und Überwindung dieser Dunkelheit gewidmet sind, welche die Grundlagen der gesamten Philosophie Kants in Frage stellt, da die „unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen“ (KdU B XIX) die Metaphysik der Natur und der Sitten und das Subjekt der theoretischen und das der praktischen Vernunft auf ungeklärte Weise voneinander trennt und beide gemeinsam in den Abgrund zu reißen droht.
 Wie die Extrempositionen der Philosophie des 20. Jahrhunderts beweisen, handelt es sich dabei keineswegs um mittlerweile längst zu den historischen Akten zu legende Probleme eines überlebten Idealismus, zeigt sich doch am unversöhnlichen Nebeneinander von Szientismus und Existentialismus nur allzu deutlich, wie es um die „zwey Cardinalpuncte der Metaphysik“, die „Idealität des Raumes und der Zeit (folglich der Begriff der Gegenstände der Erfahrung als Erscheinungen) und die practische Realität des Vernunftbegriffes von der Freiheit“ (Refl. 6349, AA XVIII, S. 673. Vgl. Fortschritte A 151f.; Refl. 6348, AA XVIII, S. 672; Refl. 6353, AA XVIII, S. 679f.), bestellt ist, wenn sie nirgendwo befestigt sind. Wenn die Idealität des Raumes und der Zeit und die praktische Realität des Freiheitsbegriffes nur auseinandergehalten aber nicht zusammengedacht werden können, dann zerfallen die Metaphysik und mit ihr der Vernunftbegriff einerseits in eine szientistische Rationalität, die sich nur an erfahrungs- und formalwissenschaftlich beglaubigte „Gegenstände“ hält und andererseits in Bekundungen des Freiheitsbewußtseins, die sich aller Fesseln der Rationalität entledigen. Im Spannungsfeld zwischen diesen Extremen bewegt sich eine Diskussion, die man weithin „als Aufbruch des existentiellen Denkens in der Überwindung des unglaubwürdigen Idealismus“ versteht (Karlfried Gründer [1989], S. 301), obwohl gerade diese Diskussion - wenngleich in eigentümlicher Verkehrung der Positionen - die Aktualität und die Spannbreite der von Kant und seinen idealistischen Schülern verfolgten Fragen nach der Möglichkeit einer Metaphysik und nach der Einheit der in verschiedene Kompetenzen aufgespaltenen Vernunft bezeugt.
 Daß man die spekulativen Dimensionen der vielbeachteten Davoser-Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger gemeinhin verkennt, hängt auch damit zusammen, daß ein ungenannter Dritter in diesem Gespräch präsent ist. Die Rede ist von Paul Natorp, dem Lehrer Cassirers und dem Marburger Amtskollegen und Gesprächspartner Heideggers. Paul Natorp trachtet in seiner Spätphilosophie die Grenzen des neukantianischen Antipsychologismus und Geltungsobjektivismus zu überwinden (K. W. Zeidler [1995], S. 31ff.) und setzt zu einer von kultur- und wissenschaftstheoretischen Schlacken gereinigten Begründung des transzendentalphilosophischen Systemanspruchs an, indem er „der letzten Verallgemeinerung des Problems des Logischen und die seiner letzten Zuspitzung auf die Frage des Individuellen“ nachspürt (P. Natorp [1917], S. 428. Vgl. Natorps Selbstdarstellung, in: R. Schmidt (Hg.), Die Philosophie d. Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1, Leipzig 1923, sowie seine Vorlesungen über praktische Philosophie, Erlangen 1925 und die Philosophische Systematik, Hamburg 1958). Natorps Programm einer ‚allgemeinen Logik‘, das mit der eben zitierten Formulierung auf die Einheit von bestimmender und reflektierender Urteilskraft und damit durch alle drei Kantischen Kritiken hindurch auf die Einheit der kritischen Vernunft zielt, bildet den gemeinsamen Bezugspunkt in dem Disput zwischen Cassirer und Heidegger. Es bildet allerdings einen gemeinsamen Bezugspunkt, dem beide Kontrahenten auf ihre Weise ausweichen. Paul Natorp bleibt darum in dieser Auseinandersetzung ungenannt, ist aber gerade im Aneinandervorbeireden der beiden Kontrahenten präsent. Faßt man die Diskussion im Telegrammstil zusammen, dann kritisiert Cassirer „an Heidegger, daß er den Menschen auf seine Endlichkeit restringiere und ihm die Unendlichkeit abspreche, insofern er die Analyse auf die Pragmatie beschränke. Und Heidegger kritisiert an Cassirer, daß er die Philosophie trotz gegenteiliger Versicherungen doch auf das Erkenntnisproblem, dann auf Anthropologie, schließlich auf Kulturphilosophie im allgemeinen Sinne reduziere und damit auf die ausdrückliche Seinsfrage verzichte.“ (Karlfried Gründer [1989], S. 298f.).
 Beide Gesprächspartner klammern damit auf ihre Weise Natorps Frage nach der Möglichkeit einer letzten Zuspitzung „des Problems des Logischen [...] auf die Frage des Individuellen“ aus. Cassirer weicht der Frage aus, weil er vor dem Neuansatz Natorps zurückschrickt, in dem „der Damm gebrochen [scheint], den Cohen in kritischer Vorsicht errichtet hatte und den er, beim Stande der Philosophie seiner Zeit, errichten mußte, wenn er sie von den Übergriffen einer unmethodischen Spekulation befreien und in den ‚sicheren Gang einer Wissenschaft‘ [...] zurückbringen wollte“ (Cassirer [1925], S. 290). Umgekehrt weist Heidegger die Frage nach der Vereinbarkeit des Logischen und des Individuellen von sich, weil er den Logos prinzipiell verdächtigt, uns die Sicht auf das ‚Dasein’ zu verstellen. Im Gegensatz zu Cassirer, der auf „das Ganze einer Kulturphilosophie [...] im Sinne einer Aufhellung der Ganzheit der Formen des gestaltenden Bewußtseins“ ziele, versucht Heidegger „zu zeigen, daß es gar nicht so selbstverständlich ist, von einem Begriff des Logos auszugehen, sondern daß die [sc. Kantische] Frage der Möglichkeit der Metaphysik eine Metaphysik des Daseins selbst fordert als Möglichkeit des Fundaments einer Frage der Metaphysik“ (Davoser-Disputation [1929], S. 260). Darum läßt sich „das, was ich mit Dasein bezeichne, [...] nicht übersetzen [...] mit einem Begriff Cassirers. Würde man Bewußtsein sagen, so ist es gerade das, was von mir zurückgewiesen wurde. Was ich Dasein nenne, ist wesentlich mitbestimmt nicht nur durch das, was man als Geist bezeichnet, und nicht nur durch das, was man Leben nennt, sondern worauf es ankommt, ist die ursprüngliche Einheit und die immanente Struktur der Bezogenheit eines Menschen, der gewissermaßen in einem Leib gefesselt ist und [...] in einer eigenen Gebundenheit mit dem Seienden steht, inmitten desselben sich befindet, nicht im Sinne eines darauf herabblickenden Geistes, sondern in dem Sinne, daß das Dasein, inmitten des Seienden geworfen, als freies einen Einbruch in das Seiende vollzieht, der immer geschichtlich und in einem letzten Sinn zufällig ist.“ (ibid., S. 261f.).
 Heideggers existentialistisches Pathos, das sich schließlich zu der Forderung versteigt, die Philosophie habe die Aufgabe, „aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß [!] die Werke des Geistes benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte des Schicksals“ (ibid., S. 263), findet in Cassirer einen allzu moderaten Widerpart. Anstatt den daseinsanalytischen Verheißungen Heideggers in aller gebotenen Schärfe mit dem schlichten Hinweis zu begegnen, daß allein schon die Einsicht ‚in die Härte des Schicksals‘ den ‚Logos‘ voraussetzt, kleidet Cassirer diesen Hinweis in derart versöhnliche Worte, daß er seinem Argument die Spitze abbricht und ihm teilweise sogar selbst widerspricht. Cassirer formuliert das Argument in verschlüsselter Form, wenn er von „der Idee der philosophischen Erkenntnis überhaupt“ spricht, „die auch Heidegger anerkennen wird“. Er übersieht dabei jedoch, daß sich Heidegger eben erst dezidiert gegen die Anerkennung dieser ‚Idee‘ ausgesprochen hat und es daher zwischen ihm und Heidegger gar nicht mehr den gemeinsamen Boden der Verständigung gibt, auf dem „jeder, indem er auf seinem Standpunkt bleibt, dabei doch nicht nur sich selbst, sondern auch den anderen sieht.“ Cassirers Angebot zur Verständigung erfolgt unter der falschen Voraussetzung einer für beide Gesprächspartner gleicherweise verbindlichen ‚Idee der philosophischen Erkenntnis überhaupt‘ und muß von daher zwangsläufig als einseitige Schwäche des Cassirerschen Standpunktes erscheinen. Vollends untergraben wird dieser Standpunkt aber durch die Art und Weise in der Cassirer anschließend auf den faktischen Gegensatz der Positionen zu sprechen kommt: „Ich will nicht den Versuch machen, Heidegger von seiner Position loszulösen, ihn in eine andere Blickrichtung hineinzuzwingen, sondern ich will mir nur seine Position verständlich machen. Ich glaube, es ist schon klarer geworden, worin der Gegensatz besteht. Es ist aber nicht fruchtbar, diesen Gegensatz immer wieder herauszuheben. Wir stehen an einer Position, wo durch bloß logische Argumente wenig auszurichten ist. Es kann niemand gezwungen werden, diese Position einzunehmen, und kein solch rein logischer Zwang kann jemanden nötigen, mit der Position zu beginnen, die mir selbst als die wesentliche erscheint. Hier wären wir also zu einer Relativität verurteilt. ‚Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.‘ Aber bei dieser Relativität, die den empirischen Menschen in das Zentrum stellen würde, dürfen wir nicht verharren.“ (Davoser-Disputation [1929], S. 264).
 Das Gegenargument Cassirers setzt an dieser Stelle zu spät ein, zumal der darauffolgende Hinweis auf eine durch „das Urphänomen der Sprache“ bezeugte „gemeinsame objektive menschliche Welt“ (ibid.), nicht imstande ist, den ‚empirischen Menschen‘ aus dem ‚Zentrum‘ zu rücken, in das ihn Heidegger gestellt hatte. Ob ein ‚Phänomen‘ die Wirklichkeit der ‚Idee‘ bezeugt oder ob es sich dabei um ein bloß ‚geschichtliches‘ Phänomen handelt, kann nicht entschieden werden, solange man nur über ‚Phänomene‘, nicht aber über deren transzendentale Möglichkeitsbedingungen spricht. Die Besinnung auf diese Bedingungen hätte aber genau die „letzte Zuspitzung“ des Problems des Logischen verlangt, die Natorp fordert und der Cassirer ebenso ausweicht wie Heidegger: der eine, indem er den transzendentallogisch ungeklärten Logos der Idee anhand einer kulturphilosophischen Phänomenanalyse zu erhellen sucht, der andere, indem er die Phänomene gegen den Logos ausspielt. Unter diesen Voraussetzungen mußten denn auch das Fichte-Zitat (‚Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.‘) und Cassirers Bemerkung, daß der Gegensatz der Positionen nicht durch ‚logische Argumente‘ entschieden werden könne, nicht als feine Ironie, sondern als Zugeständnis an den existentialistischen Ansatz Heideggers verstanden werden.
 Der fatale Eindruck, den die ‚Davoser-Disputation‘ hinterließ, kann nicht verharmlost werden, indem man auf unglückliche äußere Begleitumstände dieser Diskussion verweist. Der Eindruck, daß Cassirer dem ‚Aufbruch des Neuen‘ wenig mehr als die Erinnerung an einen unglaubwürdig gewordenen Kulturidealismus entgegenzusetzen hatte, wird vielmehr noch bestätigt durch den Aufsatz Kant und das Problem der Metaphysik (Kant-Studien 36/1931, S. 1-26), in dem sich Cassirer mit dem gleichnamigen Werk Martin Heideggers (Bonn 1929) auseinandersetzt. Heidegger legt darin den ersten (und zugleich letzten) Abschnitt seiner in ‚Sein und Zeit‘ angekündigten „phänomenologischen Destruktion der Geschichte der Ontologie am Leitfaden der Problematik der Temporalität“ vor (vgl. Heidegger [1927], S. 39, S. 427) und versucht daher die Daseins-Analytik von Sein und Zeit an Kant zu bewähren, indem er die Vernunftkritik aus der Perspektive des transzendentalen Schematismus und der reinen Einbildungskraft interpretiert. Für Cassirer ergibt sich daraus „der eigentliche und wesentliche Einwand, den ich gegen Heideggers Kant-Interpretation zu erheben habe. Indem Heidegger alle ‚Vermögen‘ der Erkenntnis auf die ‚transzendentale Einbildungskraft‘ zu beziehen, ja auf sie zurückzuführen versucht, bleibt ihm damit nur eine einzige Bezugsebene, die Ebene des zeitlichen Daseins zurück. Der Unterschied zwischen ‚Phänomena‘ und ‚Noumena‘ verwischt und nivelliert sich: denn alles Sein gehört nunmehr der Dimension der Zeit, und damit der Endlichkeit, an. Damit aber ist einer der Grundpfeiler beseitigt, auf dem Kants gesamtes Gedankengebäude beruht, und ohne den es zusammenstürzen muß. Kant vertritt nirgends einen derartigen ‚Monismus‘ der Einbildungskraft, sondern er beharrt auf einem entschlossenen und radikalen Dualismus, auf dem Dualismus der sinnlichen und der intelligiblen Welt. Denn sein Problem ist nicht das Problem von ‚Sein‘ und ‚Zeit‘, sondern das Problem von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘, von ‚Erfahrung‘ und ‚Idee‘.“ (Cassirer [1931], S. 16).
 Soweit Cassirer als Anwalt einer philologisch pünktlichen Kant-Interpretation argumentiert, scheint er sein Angriffsziel gut gewählt zu haben. Dennoch geht sein Angriff ins Leere, hat er es doch bei Heidegger mit einem Gegner zu tun, der vorgibt, die Temporalitätsproblematik von Grund auf neu zu bedenken. Dieser philosophische Anspruch überbietet jedes philologische Argument, zumal die Kant-Philologie einräumen muß, daß gerade die Verbindung von Temporalitäts- und Freiheitsproblematik für Kant „viel Schweres an sich“ hat und „einer hellen Darstellung kaum empfänglich ist“ (KpV A 184). Unter systematischem Aspekt ergibt sich nämlich hier für Kant im Schnittpunkt von Erfahrungskritik und praktischer Metaphysik ein metaphysischer Problemknoten, den er zwar im Sinne der strikten Trennung von ‚Erscheinung‘ und ‚Ding an sich‘ durchschlagen, den er aber nicht auflösen kann. Darum ist der ‚Dualismus der sinnlichen und der intelligiblen Welt‘ von Kant zwar behauptet, aber keineswegs so entschlossen und radikal behauptet worden, wie Cassirer glauben machen will. Kant weiß, daß es sich bei diesem Dualismus um eine Notlösung handelt. Um eine Lösung, die wir zwar vorderhand akzeptieren und in der Kritik an dem antinomischen Wechselspiel von Dogmatismus und Skeptizismus auch entschlossen behaupten müssen, die uns aber nicht etwa daran hindert, sondern ganz im Gegenteil uns dazu auffordert, nach besseren Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Die Kritik der Urteilskraft und vorallem das Opus postumum bezeugen denn auch, daß die Zwei-Welten-Theorie und ihre Voraussetzung: die ‚transzendentale Idealität und empirische Realität‘ der Anschauungsformen und der Erscheinungen, für Kant nicht einfach ein Dogma ist, das wir unbefragt hinnehmen müssen. Die Frage, ob wir hinter die ‚transzendentale Idealität und empirische Realität’ der Erscheinungen und über die Differenz von Natur- und Freiheitsbegriff hinaus in eine Dimension vorstoßen können, die das gemeinsame Fundament von sensibler und intelligibler Welt abgibt, hat den späten Kant ebenso bewegt, wie den Deutschen Idealismus, weil diese Frage in letzter Instanz über die Einheit der ‚Vernunft‘ und damit auch über den (systematischen) Anspruch der Transzendentalphilosophie entscheidet. Insofern unterbietet Cassirer nicht nur das spekulative Problempotential der  Kantischen Philosophie, sondern läuft auch noch geradewegs in offene Messer, wenn er den ‚Dualismus der sinnlichen und der intelligiblen Welt‘ gegen den Heideggerschen ‚Monismus der Einbildungskraft‘ ausspielt.
 Dabei ist sich Cassirer andererseits der grundlegenden systematischen Probleme durchaus bewußt; er transformiert sie jedoch im Lichte seiner Philosophie der symbolischen Formen zu einem gleichermaßen anmutigen wie systematisch unverbindlichen Panorama des Wissens um die Problemzusammenhänge, wenn er gegen die Heideggersche Zentrierung auf den Schematismus und die Lehre von der Einbildungskraft darauf hinweist, daß diese Lehre „zwar im Mittelpunkt der Kantischen Analytik, aber nicht im Brennpunkt des Kantischen Systems“ steht, das sich vielmehr „erst in der transzendentalen Dialektik - und weiterhin in der ‚Kritik der praktischen Vernunft’ und in der ‚Kritik der Urteilskraft‘ […] bestimmt und vollendet“, sodaß man „das Thema ‚Kant und die Metaphysik’ […] sub specie der Kantischen Ideenlehre, insbesondere sub specie der Kantischen Freiheitslehre und seiner Lehre vom Schönen behandeln“ müsse, deren „wesentliches Ziel […] nicht das Dasein des Menschen, sondern das ‚intelligible Substrat der Menschheit‘ ist“, insofern sie „den Menschen von vornherein unter die ‚Idee der Menschheit’ stellen und ihn unter dem Gesichtspunkt dieser Idee betrachten“ (S. 18). Indem er Friedrich August Langes „Standpunkt des Ideals“, d.h. die „Art und Stimmung [!], in der Schiller, in der Wilhelm von Humboldt die Kantische Philosophie gesehen haben“ (Cassirer [1931], S. 25), gegen Heideggers existential-ontologische Kantdeutung ausspielt, optiert Cassirer letztlich nur für eine andere Kant-Interpretation: er stellt im Unterschied zu Heidegger die ästhetische Urteilskraft in den „Brennpunkt des Kantischen Systems“, er zeigt aber nicht, inwieweit sie tatsächlich die Einheit von Verstand (Analytik) und Vernunft (Dialektik) und von theoretischer und praktischer Vernunft ist, bzw. inwieweit sich das „System“ denn nun eigentlich „weiterhin in der ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ und in der ‚Kritik der Urteilskraft‘ […] bestimmt und vollendet“. Das genuin Kantische „Problem von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘, von ‚Erfahrung‘ und ‚Idee‘“ (Cassirer) erscheint dadurch zugunsten einer einseitig ästhetisch-idealistischen Interpretation der Transzendentalphilosophie abgespannt, die sich nur schwer des Vorwurfs einer grundlosen Vernunftgläubigkeit und eines völlig ungeklärten Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft erwehren kann.
 In gleicher Weise läßt Cassirer das spekulative Problempotential der Transzendentalphilosophie ungenützt, wenn er Heidegger zum Vorwurf macht, er suche die Lehre vom Schematismus „von dem Boden der ‚objektiven Deduktion‘ rein und ausschließlich auf den der ‚subjektiven Deduktion‘ zu versetzen“ (Cassirer [1931], S. 20). Heidegger habe nämlich solcherart, indem er „bei der Einführung des Begriffs des ‚transzendentalen Schemas‘ stehen blieb, ohne ihn in die Gesamtheit seiner systematischen Auswirkungen und seiner systematischen Folgen zu entwickeln [...] der gesamten Analyse Kants [...] im Ganzen ein verändertes Vorzeichen gegeben“, werde Kants Lehre vom Schematismus doch erst „in dem Abschnitt über die synthetischen Grundsätze [...] - ein Abschnitt, den Heidegger in seiner Interpretation nirgends herangezogen und berücksichtigt hat [...] eigentlich vollendet und erst systematisch begründet.“ (S. 19f.). Obwohl Ernst Cassirer zu Beginn seiner Erörterungen betonte, daß „der Kritiker sich entschließen [müsse], sich auf den von Heidegger gewählten Boden zu stellen [...], wofern nicht die Kritik in bloßer Polemik und in ein ständiges Aneinandervorbeireden ausarten soll“ (S. 4), macht er damit dennoch in diesem Punkt seiner Kritik an Heidegger den Grundsatz der Marburger Kant-Interpretation geltend, wonach die Lehre von den synthetischen Grundsätzen der „Hebel der Kritik“ (Cohen) sei und beharrt somit gegenüber Heideggers „These von dem originär-‚metaphysischen‘ Charakter der Kantischen Problemstellung“ auf der Grundthese „jenes ‚Neu-Kantianismus‘, der das Gesamtsystem Kants in seiner Kritik der Erkenntnis zu fundieren“ suchte (S. 18).
 Was dabei vor allem zu denken gibt, ist der Umstand, daß Cassirer den wissenschaftstheoretischen Kurzschluß in seiner eigenen (der Marburger) Argumentation vollkommen übersieht. Daß der „Schematismus [...] für Kant wesentlich zu seiner Phänomenologie des Objekts, aber [...] nicht, oder nur durchaus mittelbar, zu der des Subjekts“ gehört, daß Heidegger ihn „von dem Boden der ‚objektiven Deduktion‘ [...] auf den der ‚subjektiven Deduktion‘ zu versetzen gesucht [hat], indem er bei der Einführung des Begriffs des ‚transzendentalen Schemas’ stehen blieb“ (S. 19f.), kann ja wohl nur dann als Argument gegen Heidegger ins Treffen geführt werden, wenn man Begründung und Einführung des Begriffs trennt, wenn man also erst in der „Ausführung und Durchführung der Kantischen Lehre vom Schematismus [...] in dem Abschnitt über die synthetischen Grundsätze“ das Kapitel der Vernunftkritik erblickt, „in dem sich Kants Lehre vom Schematismus erst eigentlich vollendet und erst systematisch begründet.“ (Cassirer [1931], S. 19). Wenngleich man nicht übersehen darf, daß die pädagogischen und pragmatischen Intentionen Kantens diesem wissenschaftstheoretischen Reduktionismus der Marburger entgegenkommen und obgleich nicht zu übersehen ist, daß Heideggers Auffassung der „Zeit als Grundbestimmung der endlichen Transzendenz“ auf die „innere Möglichkeit der Offenbarkeit des Seins von Seiendem“ (Heidegger [1929], S. 219) und nicht auf das Kantische Problem einer systematischen Entfaltung der ‚Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt’ abzielt, sollte man dennoch überlegen, ob nicht Heidegger hier in einem wesentlichen Punkte dem historischen Kant genauso nahe und genauso ferne steht wie der Kantianer Ernst Cassirer.
 Bei Lichte besehen, hat nicht bloß Heidegger, sondern hat auch der Marburger Neukantianismus „der gesamten Analyse Kants, bei aller Sorgsamkeit und Genauigkeit in den Einzelheiten, im Ganzen ein verändertes Vorzeichen gegeben“. Wenn Cassirer die systematische Begründung der Schematismuslehre „erst in dem Abschnitt über die synthetischen Grundsätze zu finden“ meint, dann widerspricht er damit nämlich nicht minder dem Geist und Buchstaben der Vernunftkritik, wie Heidegger, wenn dieser die „subjektive Deduktion“ der ersten Auflage im Zusammenhang mit dem Schematismus-Kapitel als „transzendentale Enthüllung des Wesens der Subjektivität des Subjekts“ auffaßt (Heidegger [1929], S. 84, 151); denn die systematische Begründung des transzendentalen Schematismus als des Mediums der Restriktion und der „Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt“ (KrV B 150) bzw. auf „Erscheinungen“ (KrV A 137/B 176), erfolgt bei Kant nicht erst in der Lehre von den synthetischen Grundsätzen, sondern erfolgt bereits durch die „metaphysische Deduktion“ der reinen Verstandesbegriffe, deren Ordnung Kant sowohl die Ordnung der „transzendentalen Schemate“ (KrV A 142/B 181), wie auch „die ganz natürliche Anweisung zur Tafel der Grundsätze“ (KrV A 161/B 200) vorgibt. Wenn nun umgekehrt die Marburger Kantinterpretation die systematische Begründung der Kategorien erst in den synthetischen Grundsätzen sucht, so ersetzt sie die ‚metaphysische‘ kurzerhand durch eine wissenschaftstheoretische Deduktion (oder vielmehr Rekonstruktion) der Kategorien, die jedoch nie und nimmer deren Vollständigkeit garantieren kann. Mit anderen Worten: der wissenschaftslogische Idealismus eliminiert die leidigen Probleme der „metaphysischen“ und der „transzendentalen Deduktion“ der reinen Verstandesbegriffe, indem er den Anspruch auf die Vollständigkeit der Kategorientafel aufgibt und die Kategoriensystematik am „‚Faktum‘ der Wissenschaft“ zu bewähren sucht. Er verkehrt damit jedoch die Absicht Kantens in ihr genaues Gegenteil, ist es Kant doch nicht um eine wissenschaftstheoretische Legitimation der „reinen Verstandesbegriffe“, sondern um den Aufweis der apriorischen Bedingungen des „Faktums“ Wissenschaft gegangen, auf daß endlich auch die Metaphysik an Hand dieser apriorischen Bedingungen den „sicheren Gang einer Wissenschaft“ antreten könne.
 Die Schwierigkeiten, die einer solchen Vereinbarung von Wissenschaft und Metaphysik im Wege stehen, hat Kant freilich offenbar zunächst unterschätzt. Im Unterschied zu den Neukantianern, die diese Schwierigkeiten überhaupt vermeiden wollten, indem sie die Transzendentalphilosophie auf eine Philosophie der Wissenschaften und der Kultur verkürzten, haben sich aber der späte Kant und seine idealistischen Nachfolger dem Problem gestellt. Und wie die ‚Davoser Disputation‘ zeigt, sind die Probleme einer spekulativen - subjekttheoretischen oder naturphilosophischen - Vereinbarung von Wissenschaft und Metaphysik auch dann nicht erledigt, wenn man lautstark das Ende des ‚Idealismus‘ verkündet.
 
 

1) überarbeitete Fassung von: Natur und Freiheit, mit Blick auf Cassirer und Heidegger, in: H. Eidam et al. (Hrsg.), Kritik und Praxis. Zur Problematik menschlicher Emanzipation. W. Schmied-Kowarzik zum 60. Geburtstag, Lüneburg 1999, S. 107-118.
 
 
 

Literaturnachweise:
 

Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger, in: M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/Main 41973

E. Cassirer [1925], Paul Natorp. 24. Januar 1854 - 17. August 1924, in: Kant-Studien 30/1925.
--- [1931], Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation, in: Kant-Studien 36/1931.

K. Gründer [1989], Cassirer und Heidegger in Davos 1929, in: H.-J. Braun/ H. Holzhey/ E.W. Orth (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Fft/M 1989

M. Heidegger [1927], Sein und Zeit, Halle/Saale 1927.
--- [1929], Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929.

P. Natorp [1917], Bruno Bauchs ‚Immanuel Kant‘ und die Fortbildung des Systems des kritischen Idealismus, in: Kant-Studien 22/1917.

K. W. Zeidler [1995], Kritische Dialektik und Transzendentalontologie. Der Ausgang des Neukantianismus und die post-neukantianische Systematik, Bonn 1995.